Neue Nachbarschaften

Zara versucht anzukommen in Deutschland. Sie will schnell Deutsch lernen, den Führerschein machen, arbeiten. Doch die Einsamkeit ist schwer zu überwinden.
— Von Elisabeth Wellershaus, 14.12.2023

Zaras* letzter Wohnort in Damaskus lag direkt zwischen den Fronten. Ihre Straße führte durch ein Gebiet, das auf der einen Seite von den Truppen Baschar al-Assads kontrolliert wurde. Auf der anderen von revolutionären Kräften. 2013 war das Haus, in dem sie zuvor mit ihrer Familie gelebt hatte, zerstört worden. In der Hoffnung, dass es ein paar Kilometer abseits der Hauptstadt sicherer sein würde, zogen sie nach Kurzaufenthalten an verschiedenen Orten nach Qudsaya. Zara schloss ihr Studium ab, arbeitete als Apothekerin, und dann wurde alles noch schlimmer.

Beziehungen und Zugehörigkeit sind essentiell für ein Gefühl von Sicherheit © Maritta Iseler

 
Sie erlebte, wie die Kämpfe buchstäblich über ihren Kopf hinweg ausgetragen wurden. Wie Kämpfende aus beiden Lagern in ihrer Apotheke ein- und ausgingen. Wie Nachtschichten zur ständigen Gefahr wurden, weil der Drogenkonsum massiv stieg und sie mehrfach mit vorgehaltener Waffe bedroht wurde. Bei der Frage danach, was sie aus der Zeit davor erinnert, zuckt sie ratlos mit den Schultern. Sie war Mitte zwanzig, als die beiden Nachbarschaften, die ihre Kindheit und den Beginn ihres Erwachsenenlebens geprägt haben, in Schutt und Asche lagen. Anfang 30, als sie vor einem Jahr über Umwege in Deutschland ankam.

Regenschlieren verklären den Blick auf das Gesundbrunnen Viertel, als ich Zara im November in einem Berliner Hotel kennenlerne. Sie lebt jetzt in Brandenburg, ist für eine Veranstaltung in die Stadt gekommen. Und sie redet enthusiastisch gegen die trübe Stimmung vorm Fernster an. Sie erzählt von einem Aufenthalt auf Schloss Bröllin. Von einem Workshop für geflüchtete Frauen, den sie im Rahmen des Projekts Meet Your Neighbours besucht hat, das ich als Autorin begleite, indem ich die Perspektiven und Erfahrugen der Teilnehmenden in Deutschland dokumentiere. Sie erzählt, wie beruhigend die Brandenburgische Provinz auf sie gewirkt hat. Geschichten übers Marmeladeeinkochen, über Kräutergärten und alte Gutshöfe. „Ich glaube, es war das erste Mal seit meiner Ankunft in Deutschland, dass ich mich in Ruhe mit anderen Frauen unterhalten konnte“, sagt sie. Dass sie zusammen gezeichnet haben. Und dass eine der anderen ihr später einen Skizzenblock schickte, weil sie Talent für Stillleben mit Gemüse zeigte.

Die Tage der Begegnung mit kreativer Koch–, Back– und Einmachkunst fanden im September auf Schloss Bröllin statt. © Maritta Iseler

 
Es scheint, als beschreibe sie winzige Momente des Aufatmens, das Gefühl, wenn der Druck des Alltags für einen Moment nachlässt. Doch irgendwann kommt sie nicht mehr gegen die schmerzhaften Erinnerungen an, die sich in die Stimmung dieses Herbsttags mischen. Irgendwann, als sie von neuen Nachbarschaften im Asylbewerberheim spricht, brechen Erinnerungen an die alten heraus. Punkte und Kommas verschwimmen in ihrer hastigen Erzählung über ein zerstörtes Umfeld. Ihr Weinen ist das Ende unseres offiziellen Gesprächs und der Beginn einer Annäherung.

Auf der Suche nach einem Café laufen wir durch den Nieselregen, und ich denke über die Verantwortung nach, die im Dokumentieren mancher Geschichten liegt. Hätte ich Zara früher unterbrechen sollen, die Zeichen deuten, als sie noch stabil wirkte und außergewöhnlich gefasst vom Unfassbaren erzählte? Hätte ich das Gespräch fortsetzen sollen, weil ich als Journalistin die Möglichkeit habe, Erfahrungen und Geschichten öffentlich zu machen, die in Deutschland noch immer zu selten gehört werden? Wo verselbstständigt sich individuelle Erfahrung, fügt sich in kollektive Erzählungen und Wahrnehmungen über Krieg und Flucht? Wie bleibt sie Eigentum derjenigen, die das Trauma oft ganz allein mit sich rumschleppen und lässt doch Raum für Verbindungen?

Zusammen laufen Zara und ich durch das Berliner Gesundbrunnen-Viertel, und ihr Blick streift die fremde Umgebung im Vorbeigehen. Autofahrer*innen, die sich penibel an Geschwindigkeitsvorgaben halten. Menschen, die gehetzt aneinander vorbeilaufen, ohne sich wirklich wahrzunehmen. Beobachtungen, die Zara verdutzt zur Kenntnis nimmt. Alltag, der sich der relativen Sicherheit, die ihn umgibt, kaum bewusst scheint. Kein Krieg, der ständig in Hörweite ist. Keine Granatsplitter auf Spielplätzen oder in Hinterhöfen. Kein patrouillierendes Militär. Keine allgegenwärtige Erinnerung daran, wie vielfältig brutal das Leben sein kann.

Ein geschützter Raum, wie hier beim Zeichnen auf Schloss Bröllin, gibt Frauen
wie Zara zumindest kurzzeitig ein Gefühl für Sicherheit zurück. © Maritta Iseler

 
Als wir ein kleines Café in der Ferne ansteuern, überrascht mich ein banaler Gedanke: wie subjektiv das Wahrnehmen von Sicherheit und das Erleben eines Umfelds sein können. An einem Kiosk leuchtet ein Schild mit dem Wort Gesundbrunnen, und ich frage mich, wie wohl Zara dieses Viertel wahrnimmt, das selbst eine bewegte Geschichte hat. Sein Name gründet auf der Entdeckung einer Heilquelle, die Mitte des 18. Jahrhunderts den Bau einer Heil- und Badeanstalt inspirierte. Adelige und intellektuelle Kurgäste kamen vorbei, bis die Gegend sich langsam zum weniger vornehmen Vergnügungsviertel wandelte. Im 19. Jahrhundert wurde der Gesundbrunnen mit zunehmender Landflucht zur Arbeiter*innen-Gegend, während des Nationalsozialismus war der Widerstand gegen die NS-Diktatur hier groß, und nach dem Anwerbeabkommen von 1961 zogen viele Migrant*innen ins Viertel. Manchen Berliner*innen gilt es heute als „Problemkiez“, und vielleicht ist das aus Zaras Perspektive am wenigsten greifbar.

Langsam breitet die Abenddämmerung sich aus. Im Halbdunkeln erahne ich, wo unsere Wahrnehmungen auseinandergehen – im Blick auf unbekannte Menschen, Berliner Architekturen, Atmosphären. Die Infrastrukturen vor Ort bieten etwas, das für mich selbstverständlich ist und für Zara nicht: Begegnung in relativ sicherer Umgebung – und Beweglichkeit. Die vergangenen neun Monate hat sie in einer Gemeinschaftsunterkunft im Brandenburgischen Bliesdorf verbracht. Auf dem Gelände gab es weder verlässlichen Internetzugang noch Handyempfang. Unter den Bewohner*innen lebte zu diesem Zeitpunkt nur eine weitere Frau. Und im Schnitt war Zara an die fünf Stunden täglich unterwegs, um vom Heim zur Fahrschule, zum Deutschunterricht und wieder nach Hause zu kommen. Ein Teil ihres Wegs führte dabei durch einen Wald, in dem sie oft nur männlichen Mitbewohnern begegnete. Und die leisen Drohungen, die man ihr zuraunte, blieben stets zu subtil, um gegen sie vorzugehen.

Seit ein paar Wochen wohnt sie in Buckow und ist nicht mehr allein unter Männern. Vor kurzem hat sie ihre Schwester in Bochum besucht, ihre Nichten und Neffen. Sie freut sich auf den Moment, in dem sie den deutschen Führerschein erhält, auch wenn sie nicht weiß, mit welchem Auto sie fahren soll. Sie will so schnell wie möglich Deutsch lernen, und vor allem: wieder arbeiten. „Ein bisschen mehr Beweglichkeit wäre schön“, sagt sie. Kurz darauf läuft eine Gruppe junger Menschen an uns vorbei. Sie stecken die Köpfe zusammen, gestikulieren wild, lachen und strahlen eine Sorglosigkeit aus, die in einer weit entfernten Realität stattzufinden scheint.

Die Auswirkungen von Einsamkeit und sozialer Isolierung auf die Gesundheit sind hoch. © Maritta Iseler

 
Bei Tee und Keksen erzählt Zara davon, wie einsam sie sich in Deutschland fühlt. Die Blase aus gleichaltrigen Gen-Z Gästen, die an den Nebentischen sitzen und mit ihren Laptops in digitale Welten eintauchen, die in intensive Gespräche vertieft sind und sich auf Sofas lümmeln, scheint undurchdringbar für sie. Im Spagat zwischen traumatischen Vergangenheiten und mühsamen Neuanfängen bleibt sie unsichtbar für ein Umfeld, das sich den Luxus des Eskapismus gelegentlich noch leisten kann. Wobei die Brutalität der Gegenwart über kurz oder lang ja doch fast überall anklopft. 

In der idyllischen Region um Schloss Bröllin, wo Zara vor Wochen Marmelade einkochte, hat die AfD eine sehr stabile Wähler*innen-Basis. Bei der letzten U-18-Wahl stimmten 20 Prozent der Jugendlichen in einem nahegelegenen Wahllokal sogar für die NPD. Die Angst vor „Fremden“ wird an Orten wie diesen nicht selten dadurch angeheizt, dass sie sich scheinbar mühelos mit Themen wie Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Perspektivlosigkeit verbinden lässt. Der Gedanke, dass Fremdheitserfahrung auch ein lokales Phänomen sein könnte, taucht in dieser Logik nicht auf. Zumindest wird noch immer selten darüber gesprochen, dass die Probleme von Migrant*innen und Menschen, die aus ländlichen Regionen im deutschen Osten stammen, sich durchaus überschneiden können. Dabei läge vielleicht gerade dort die Chance: sich über geteilte Erfahrungen anzunähern. Über das Erleben von gesellschaftlicher Isolation und zugeschriebener Randständigkeit – im Wissen darum, dass die strukturellen Probleme, die dahinter liegen, oft blinde Flecken bleiben.

Einen Tag nach meiner Begegnung mit Zara sitze ich in einem Konferenzraum der Stiftung Mercator. Um mich herum Menschen aus migrantischen Vereinen und Teilnehmende des Projekts Meet Your Neighbours. In den vergangenen drei Jahren habe ich sie als Autorin begleitet, ihre Geschichten aufgeschrieben, beobachtet, wie ihre Netzwerke gewachsen sind. Ich habe miterlebt, wie sie andere Migrant*innen unterstützt und Kontakt zu Alteingesessenen gesucht haben, wie sie sich oft bis zur Erschöpfung aufgerieben und für ein Stück Zugehörigkeit gekämpft haben. Wie sie sich gemeinsam gegen die Traumata gestemmt haben, die mit ihnen nach Deutschland kamen. Einige von ihnen begegnen sich an diesem Morgen zum ersten Mal. Leiter*innen von Frauengruppen oder Brandenburger Bildungsprojekten. Lehrer*innen, Musiker*innen, Hausfrauen, Schüler*innen, Autor*innen. Auch sie haben mir von dem Kraftakt erzählt, den es kostet, um die Isolation nach der Ankunft in Deutschland zu überwinden – und neue Gemeinschaften zu finden.

 

Meet your Neighbours © Kathrin Tschirner


 

Irgendwann schaue ich zur Tür und sehe Zara. „Ich hab verschlafen“, ruft sie mir zu. „Den Wecker überhört und die Bahn verpasst.“ Eigentlich hatte sie sich gegen die Veranstaltung entschieden. Sie wollte nach Straußberg fahren, um ihren Deutschkurs nicht zu verpassen. Aber vielleicht hat ihr Unterbewusstsein sich heute ausnahmsweise gegen die Sprache und für das Betreten neuer Räume entschieden. Es liegt Skepsis in ihrem Blick, als sie den Trubel im Raum auf sich wirken lässt. Aber dann kommt schon jemand auf sie zu.

*Name von der Redaktion geändert

Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Der Kampf um ein Stück Zugehörigkeit“ bei 10 nach 8 auf Zeit Online.

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