Hüttenleben
Die Filmemacherin Tianlin Xu beobachtet in der Hattinger Nachbarschaft die gelebte Geschichte und lebendige Gegenwart einer Stadt, die Zuwanderung seit Jahrhunderten kennt.
— Von Elisabeth Wellershaus, 06.09.2022
Es ist nicht genau auszumachen, ob sie die Stadt bewachen oder Neuankömmlinge begrüßen. Jedenfalls machen die drei Eisenmänner, die gegenüber vom Bahnhof stehen, Eindruck. Als die Skulpturen des polnischen Bildhauers Zbigniew Frączkiewicz 1996 in Hattingen aufgestellt wurden, schockierten sie manche Passant*innen mit ihrer Nacktheit. Auf uns wirken sie wie ein paar harmlose Riesen, die uns freundlich den Weg in die Stadt weisen. Sie empfangen meine Kollegin Aylin und mich an einem Ort, der sich auf den ersten wie zweiten Blick ambivalent gibt.
Fachwerkromantik, eine schnuckelige Altstadt und das üppige Grün der Hattinger Schweiz scheinen in unmittelbarem Gegensatz zu einer Vergangenheit mit Eisenverhüttung und Stahlproduktion zu stehen. Doch bis heute identifiziert sich die Stadt im Ruhrgebiet mit ihrer „Hütte“. Bis 1987 liefen die Hochöfen in der Henrichshütte Tag und Nacht. Mittlerweile ist das Gelände ein Industriemuseum, und es erinnert noch immer vieles an die industrielle Geschichte der gesamten Region: Pflanzen, die sich einst zwischen Materialsendungen aus Südamerika versteckten, bahnen sich ihren Weg über alte Bahnschienen, entlang den Umrissen des letzten Hochofens. Die Väter und Großväter mancher Mitarbeiter*innen haben noch hier gearbeitet. Und im Eingangsbereich hängen Fotos von ehemaligen Arbeiter*innen, die im vergangenen Jahrhundert aus verschiedensten Ländern nach Hattingen zur „Hütte“ kamen.
Zwei Stunden nach unserer Ankunft sitzen Aylin und ich vor Industriepanorama an einer langen Tafel auf dem Museumsgelände. Nach und nach treffen andere Gäste ein und nehmen vor dem Hochofen Platz. Neben mir sitzt Tianlin Xu und begrüßt das Team des Museums überschwänglich. Seit sie für einen ihrer Filme die Hattinger Einwanderungsgeschichte recherchiert hat, geht sie hier ein und aus. Doch an diesem Abend ist Xu nur eine von vielen Zugezogenen, die sich zum „Nachbarschaftsessen“ einfinden.
Es soll ein Auftakt sein, ein zaghafter Versuch, die gegenwärtige Diversität Hattingens mit der vielfältigen Geschichte der „Hütte“ zusammenzudenken. Die AG Diversity des Museums will die Frage, wie Geschichte und Gegenwart sich verbinden lassen, nicht länger allein aus deutscher Perspektive beantworten. Trotz der migrantischen Geschichte, die die Stadt prägt, spiegelt die aktuelle Vielfalt der Bewohner*innen sich noch nicht umfassend im Museum wider. Das soll sich ändern. Und deshalb sitzen neben Tinalin Xu türkisch-, tamilisch- und arabischsprachige Gäste. Auch ein Pfarrer mit seiner Tochter ist dabei und eine junge Frau, die sich in der Rheuma-Selbsthilfe und Demenzpflege engagiert. Als Xu den Namen der Klassenlehrerin erwähnt, bei der ihr Sohn eingeschult werden soll, wird die junge Frau hellhörig. Nach ein paar Sätzen stellt sich heraus, dass sie vor Jahren von derselben Lehrerin unterrichtet wurde. Was Aylin und ich für einen spektakulären Zufall halten, wundert unsere Sitznachbarinnen kaum. Hattingen ist klein und oft begegnet man sich zwei Mal.
Als Tianlin Xu 2007 für einen studentischen Austausch nach Bochum kam, fühlte sie sich sofort wohl im Ruhrpott. Nachdem sie ihr Masterstudium in NRW beendet hatte, war klar, dass sie bleiben würde. Seit sechs Jahren lebt sie mit Mann und Kindern in Hattingen, hat sich den Ort als Nachbarin, Mutter und Filmemacherin erschlossen. Schon ihrem Deutsch hört man die Souveränität an, mit der sie sich durch Hattingen bewegt.
Als sie uns am nächsten Tag durch die Stadt führt, scheint sie zu jeder Altstadtecke die passende Geschichte zu kennen. Legenden, die sich um den schiefen Kirchturm ranken. Erzählungen zu den Fachwerkhäusern, durch deren Aborterker einst die Exkremente der Bewohner*innen fielen. Anekdoten zum Mist des Viehs, das früher durch die Straßen getrieben wurde. Vor allem aber kennt sie die Geschichte der „Hütte“. Schon weil ihr Schwiegervater ihr als Bergbauarbeiter verbunden war. Durch ihn ist auch Xu mit der Vergangenheit Hattingens verflochten, wo 1855 der erste Hochofen angeblasen wurde. Wo die Menschen sich über weite Strecken der folgenden 120 Jahre über die zehrende Schufterei in der Eisengewinnung und die Gemeinschaft der Arbeiter*innen definierten.
Als Filmemacherin, die an Universitäten in Peking und Bonn studiert hat, ist Xus Blick auf die Geschichte Hattingens jedoch vor allem ein multiperspektivischer. International verwurzelt bewegte sie sich bis zur Pandemie geschmeidig mit Mann und Kindern zwischen Deutschland und China – ihre Eltern kamen aus Hangzhou zu Besuch, sie selbst flog so oft es ging zu ihnen. Xus Filme spiegeln die Auseinandersetzung mit dem eigenen diasporischen Leben, mit der Verortung von Heimat, dem Spagat zwischen Nähe und Distanz. Doch auch der generelle Blick auf migrantisches Leben interessiert sie. So begegnete sie ihrer Wahlheimat in einem der letzten Projekte auf unbekannten Pfaden – mit einem Film über die zugezogenen Frauen der Stadt.
Zufällig war Xu 2019 in Hattingens internationalem Frauencafé vorbeigekommen. Und zufällig hatte die Leiterin gerade vor, die Lebensgeschichten der Frauen, die regelmäßig kamen, zu dokumentieren. Protagonistinnen, die ihre Geschichten erzählen wollten, waren schnell gefunden. Und auf einmal tat sich vor Xus Augen ein Hattingen auf, das ihr bis dahin fremd gewesen war.
Wir sitzen im Frauencafé, als sie davon erzählt, wen sie hier alles kennengelernt hat. Es sind Frauen und Witwen ehemaliger Hüttenarbeiter wie junge Geflüchtete, die erst seit ein paar Jahren hier leben. Xus Augen leuchten, wenn sie von ihnen erzählt, lebhaft gestikulierend von dem Netz an Beziehungen berichtet, das sich vor ihr ausbreitete. Angélica kam 1979 nach Diktaturerfahrungen von Chile nach Deutschland. In Hattingen war sie Mitbegründerin des Frauencafés und Ehefrau eines Mannes, der in der Henrichshütte arbeitete. Julia kam 1973 aus Portugal, um in einer Schokoladenfabrik zu arbeiten. Leider bescheinigte der Betriebsarzt ihr eine Schokoladenallergie und so landete sie in einer Konservenfabrik. Auch ihr Mann war bei der „Hütte“ angestellt. Maryam floh 2015 mit ihrem späteren Ehemann aus Afghanistan. Mariam kam auf verschlungenen Wegen aus Syrien. Sie alle verbinden das Ankommen und die Neuverortung in Hattingen.
„Wir haben es heute leichter als die Frauen damals“, sagen einige der Jüngeren, „es gibt viel mehr Hilfsangebote.“ In diesem Satz scheint der intergenerationelle Austausch auf, den Xu in ihrem Film einfängt. Zusammen sprechen die Frauen im Café darüber, wer gerade etwas braucht, wie man einander helfen kann. Neugier und Unterstützung scheinen sich gleichermaßen aus den unterschiedlichen Erfahrungen herauszuschälen. Sie überkreuzen sich in einer Stadt mit 54.000 Einwohner*innen, deren Migrationsgeschichte über Generationen zurückreicht.
Am Tag nach dem Nachbarschaftsessen treffen wir Xus chinesische Freundin in der Altstadt wieder. Wenig später begegnen wir der Erzieherin ihrer Tochter – die nächste Generation, die Hattingen verändern könnte.
Xus Eltern sind in China kürzlich aufs Land gezogen. Gelegentlich klagt die Mutter über die dörfliche Nachbarschaft, die stets unangemeldet vor der Tür stehe. Die Filmemacherin lächelt, wenn sie an ihre städtischen Eltern denkt, die nachbarschaftliche Nähe auf ihre alten Tage nun neu aushandeln müssen. In einem Studentenwohnheim in Peking teilte sie selbst sich früher ein Zimmer mit fünf weiteren Studierenden und es störte sie kaum. „Nachbarschaft ist immer ein Aushandeln von Nähe und Gemeinschaft“, sagt sie zum Abschied. Und schon biegt wieder jemand um die Ecke, der sie in ein Gespräch verwickelt – und ihre Neugier weckt.