Raus aus dem Labyrinth der Paralyse

Ende September veranstaltete die Künstlerin Katrin Sasse am Essener Kopstadtplatz eine interaktive Performance, bei der migrantische Vereine aus der Gegend sichtbar wurden. Monira Wali leitet eine dieser Initiativen und hat unsere Autorin zu der Veranstaltung begleitet.
— Von Elisabeth Wellershaus, 19.10.2023

Eine Bildergalerie von Anna Spindelndreier

Spaziergang durch Essen mit der Journalistin Elisabeth Wellershaus und Protagonistin Munira aus Afghanistan. 16. September 2023

Der Kopstadtplatz in der Essener Nordstadt gilt schon lange als Ort der performativen Begegnung. Ende des 19. Jahrhunderts wurde hier regelmäßig eine Kirmes veranstaltet, ganz in der Nähe steht Essens erstes Varietétheater. An einem Samstag im September sitze ich auf einer Bank direkt in der Mitte des Platzes. Noch ist es relativ ruhig. Ein paar Passant*innen kommen vorbei, an den äußeren Ecken des Platzes üben sich Jugendliche im Skateboardfahren, einige Frauen entspannen sich im Schatten eines Baumes. Doch eine Person sticht aus der Menge heraus. Sie trägt einen Hut mit auffällig breiter Krempe, im Arm hält sie mehrere Schwimmnudeln und auf ihrem Tanktop steht „Vorfahren der Zukunft“. Neugierig wird sie von einigen Spaziergänger*innen beäugt. Und die Aufmerksamkeit wächst, als sich nach und nach immer mehr Frauen zu ihr gesellen.

Spaziergang durch Essen mit der Journalistin Elisabeth Wellershaus und Protagonistin Munira aus Afghanistan.16. September 2023
Katrin Sasse

Katrin Sasse ist Theaterpädagogin, Improvisationskünstlerin, Mitglied des Künstlerkollektivs Transforming smART. Und an diesem Nachmittag hat sie zur Offenen Bühne auf dem Kopstadtplatz eingeladen. Die Frauen, die unter dem Baum sitzen, grüßen Sasse vertraut. Fast alle von ihnen sprechen Arabisch oder Persisch, die meisten kennen sich über die migrantischen Vereine in der Gegend, mit denen Sasse zusammenarbeitet. Und heute stellen sie die klare Mehrheit an diesem Ort der Begegnung dar.

Etwa eine Stunde vor der Performance holt Monira Wali mich zu einem Spaziergang ab, um mir Orte im Viertel zu zeigen, an denen sie sich oft aufhält. Unsere erste Station ist das Vielrespektzentrum, das gleich um die Ecke vom Platz liegt – eine der wichtigsten Anlaufstellen für sie und die interkulturelle Frauengruppe, die sie leitet. Seitdem Wali 2016 in Essen ankam, hilft sie anderen Zugewanderten, in Deutschland Fuß zu fassen. Sie unterstützt sie dabei, aus der sozialen Isolation des Exillebens herauszufinden oder sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu orientieren. Sie organisiert Schwimm- und Sprachkurse, Gesprächsrunden, hält die Gruppe zusammen.

Spaziergang durch Essen mit der Journalistin Elisabeth Wellershaus und Protagonistin Munira aus Afghanistan. 16. September 2023
Elisabeth Wellershaus und Munira Wali

Auf dem Weg durchs Viertel bleibt sie immer wieder stehen und erzählt von Menschen, die ihr geholfen haben, in der Stadt anzukommen. Ein älteres Ehepaar etwa, das ihr, ihrem Mann und den beiden Kindern organisatorisch unter die Arme greift, aber auch Ausflüge und Städtereisen mit ihnen unternimmt. Wali spricht über die vielen schönen Begegnungen, die sie in den vergangenen Jahren in Essen erlebt hat. Aber auch von ihrer Überforderung – vom emotionalen Navigieren zwischen gesellschaftlichem Engagement, dem aktuellen Verlust ihres Jobs in einem Essener Krankenhaus und den belastenden persönlichen Erinnerungen.

Spaziergang durch Essen mit der Journalistin Elisabeth Wellershaus und Protagonistin Munira aus Afghanistan.<br /> 16. September 2023

Während sie mich an Orten vorbeiführt, an denen sie immer wieder neue Projekte für „ihre Frauen“ entwickelt – an der Kirche St. Gertrud, am Weberplatz, dem Treffpunkt Nord –, lässt sie die eigene schwere Vergangenheit im Gespräch durchscheinen. Ihre Eltern hat sie während des Krieges in Afghanistan verloren. Als Erwachsene hat sie sich für andere Waisenkinder in Kabul engagiert. Mit ihrem Mann, einer Tochter und einem Sohn führte sie ein eigentlich glückliches Leben, war ausgefüllt mit einem Job als Orthoptistin. Doch dieses Leben war durch die extreme politische Instabilität in der alten Heimat nicht mehr aufrechtzuerhalten.

 

Spaziergang durch Essen mit der Journalistin Elisabeth Wellershaus und Protagonistin Munira aus Afghanistan.<br /> 16. September 2023

Als wir wieder am Kopstadtplatz ankommen, wirkt sie erschöpft. Seit einer Weile rät ihr Arzt dringend zur Pause von den ehrenamtlichen Tätigkeiten. Doch es fällt ihr schwer – sie will die anderen Frauen nicht im Stich lassen. Die Frauen, die schon vor einer Stunde am Platz saßen, winken Monira Wali zu, und schlagartig kehrt etwas von ihrer Energie zurück. Als etwa zwanzig Frauen da sind, steht Katrin Sasse auf und begrüßt die Zuschauenden zu ihrer Veranstaltung über kreative Befreiungstechniken. Innerhalb kürzester Zeit hat sie Kompliz*innen im Publikum gefunden. Zusammen mit ihnen demonstriert sie anhand eines spontanen Schwimmnudel-Kampfes den schmalen Grat zwischen aggressiven und konstruktiven Konflikten. In einer Übung wird empathischer Dialog durch Improvisation erprobt, in einer anderen hilft die Spiegelung der Bewegungen des Gegenübers zu verstehen, wo Manipulation beginnen kann. Und die Frauen bringen sich begeistert ein.

Zuschauende, die etwas abseits der Performance stehen, sehen staunend zu. Das Bild einer Das Bild einer arabisch- und persischsprachigen Frauengruppe, die an einem öffentlichen Platz performt, ist in Deutschland noch immer ein seltenes. Doch keine der Frauen lässt sich aus der Ruhe bringen. Auch Monira Wali ist engagiert dabei, als Sasse zum Abschluss ihr „Haus der Veränderung“ vorstellt. Eine Art kriseninterventionistische Handlungsanweisung für die Unvorhersehbarkeiten des Lebens.

Spaziergang durch Essen mit der Journalistin Elisabeth Wellershaus und Protagonistin Munira aus Afghanistan.<br /> 16. September 2023

Ein paar Tage später wird Monira Wali mir einen Text schicken, in dem sie über ihre Flucht und die Fahrt übers Mittelmeer schreibt. Auch über den jungen Mann, der die Verantwortung an Bord hatte. „Er war siebzehn Jahre alt und völlig unerfahren“, steht in ihrem Text. „Irgendwann ließ er ganz plötzlich das Steuer los und verschwand in der Menge zwischen den frierenden Kindern. Er hatte unbändige Angst, von den nahenden Grenzkontrollen erwischt, erschossen oder verhaftet zu werden.“ Also übernahm Wali das Kommando – und die Verantwortung für 140 Menschenleben.

Ich habe Monira Wali mit Schwimmnudel in der Hand erlebt. Eingerahmt von Freund*innen und Wegbegleiter*innen, die sie in Deutschland kennengelernt hat. Das letzte Bild, das ich von ihr im Kopf habe, entstand bei der Versammlung zum Gruppenfoto. Sie und die anderen Frauen halten kleine Plakate mit den Kerngedanken zur Performance in die Kamera. Auf einem aus Pappe ausgeschnittenen Bild regt Sasse zum Entkommen aus dem „Labyrinth der Paralyse“ an. Wali steht neben den anderen Frauen und lächelt. Man sieht sie ihr kaum noch an: die Anstrengung, die es gebraucht haben muss, um aus dem Labyrinth herauszufinden.

 

Spaziergang durch Essen mit der Journalistin Elisabeth Wellershaus und Protagonistin Munira aus Afghanistan. 16. September 2023

 

Die Performance von Katrin Sasse auf dem Kopstadtplatz:

 

 

 

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