Das Leben als Testsituation

Vor gut einem Jahr kam Fatema in Deutschland an. Innerhalb kürzester Zeit hat sie die Sprache gelernt und sich in die Stadtgeschichte Wismars vertieft. Als junge afghanische Frau ist ihr klar, dass im Wissen ihre einzige Chance liegt, um sich hier ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen.
— Von Elisabeth Wellershaus, 21.11.2022

– Fotografiert von Mika Sperling

Im Zentrum von Wismar herrscht eine herbstliche Gemütlichkeit. Es ist Freitagabend, die Sonne steht schon so tief, dass sie die Stadt in Feierabendstimmung hüllt. Doch im Hof des Museums für Stadtgeschichte geht es noch geschäftig zu. Immer mehr Menschen treffen im „Schabbell“ ein, suchen Platz an einem der vielen Tische und überfliegen die Zettel, die vor ihnen ausliegen, Kopien eines Fragebogens. Fragen, die auf den ersten Blick beliebig erscheinen. Doch bei genauerem Hinsehen wird klar, was in ihnen steckt: Sie entscheiden über Zugehörigkeit, sie entscheiden über Biografien – denn sie gehören zum Einbürgerungstest für die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft.

Die Auswahl der Fragen ist durchaus unterhaltsam. Es geht um Musikalisches, Politisches um Alltagspraktisches. Innerhalb weniger Minuten bin ich mit meinen Tischnachbar*innen im Gespräch. Ja, wer hat noch gleich den Text der deutschen Nationalhymne geschrieben? Wie viele Mitgliedstaaten hat die EU? Was kann man tun, wenn eine Buslinie abgeschafft werden soll, die man dringend braucht? Dem Sportverein beitreten und das Radfahren trainieren? Dem Finanzamt auf die Pelle rücken, weil man als Steuerzahler*in ein Recht auf diese Buslinie hat? Einen Brief ans Forstamt schreiben? Nein, einigen wir uns an unserem Tisch: Wir würden eine Bürger*inneninitiative gründen oder uns zumindest an einer beteiligen.

An die sechzig Menschen sind an diesem Abend zu der Begegnungsreihe „Tell me your story“ gekommen, bei der migrantische, geflüchtete und alteingesessene Menschen aus Wismar regelmäßig zusammenkommen. Vier bis fünf der Anwesenden haben den Test bereits selbst absolviert, viele andere sind noch weit davon entfernt. Noch träumen sie von jener Staatsbürgerschaft, die Sicherheit in unruhigen Zeiten verspricht. So denken auch sie angestrengt darüber nach, wo sie ihr Kreuz bei dem Multiple-Choice-Test setzen könnten, der hier vor uns liegt.

Fatema, die neben mir sitzt, zeigt besonders großen Ehrgeiz. Immer wieder schnellt ihr Finger in die Höhe. Bei der Nationalhymne tippt sie instinktiv auf von Fallersleben, bei den EU-Mitgliedstaaten weiß sie die Zahl genau, 27. Und selbstverständlich würde sie die Bus-Initiative selbst gründen, sagt sie.

Fatema ist neunzehn Jahre alt und aus Afghanistan geflohen. Sie hat einige Jahre in Schweden gelebt und wird nach ihrer Ausweisung nun in Deutschland geduldet.

Sie wohnt in einem Viertel, das sie als herausfordernd beschreibt. Neben ihrer Familie leben viele andere Menschen dort, die alles verloren und kaum noch emotionale Reserven haben. Und doch beschreibt sie Wismar als leidlich sicheren Ort. Nach Monaten ohne Unterricht, nach Jahren, die sie mit dem Erlernen neuer Sprachen verbracht hat, geht sie endlich wieder in die Schule – ein Zustand, der ihr Halt gibt. „Philosophie und Sozialkunde sind meine Lieblingsfächer“, sagt sie und lacht, weil sie so strebsam klingt. Doch ihr Ehrgeiz hat eine lange Geschichte. Aufgrund einer Erkrankung konnte Fatema die Schule in Schweden nur sporadisch besuchen. Als es ihr besser ging, wurde sie mit ihrer Familie des Landes verwiesen. Und in Deutschland fand sie lange keinen Schulplatz. Erst als eine Lehrerin aus ihrem Sprachkurs in der Berufsschule anrief, ging es auf einmal doch.

Als Schülerin der neunten Klasse saugt Fatema alles an Wissen auf, was ihr begegnet. Sie lernt Vokabeln, Mathe, Deutsch, Geschichte. Sie will Krankenschwester werden, vielleicht auch Ärztin. Und sie weiß, dass sie sich auf sämtlichen Ebenen Wissen aneignen muss, um diesen Traum zu verwirklichen.

„Es fühlt sich an, als sei mein Leben eine einzige Testsituation“, sagt sie, während wir im Keller des Stadtmuseums über den Druck sprechen, den ein Leben im Exil oft mit sich bringt. Sie erzählt von der Panik, die sie bei Befragungen durch die Behörden erlebt. Vom Stress, den Erwartungen des neuen Landes genügen zu müssen – dem Erlernen der Sprache, dem Hineindenken in neue Gepflogenheiten.

Dabei hat Fatema in dieser Hinsicht noch Glück. Sie ist sprachbegabt und hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Nach einem Jahr arbeitet sie bereits aushilfsweise im Stadtmuseum: Mit ihrem offenen Wesen aber auch durch glückliche Umstände hat sie schnell Kontakte zu deutschen Jugendlichen gefunden, wurde Teil der Jugendfilminitiative Movie in the Box. Engagierte Sprachschullehrer*innen standen ihr ebenso zur Seite wie Wismars Referentin für interkulturelle Öffnung, Anni Steinhagen.

Vor ein paar Monaten fragte Steinhagen sie, ob sie Lust habe, gelegentlich im Museum Führungen in ihrer Muttersprache Persisch anzubieten. Kaum hatte Fatema zugestimmt, begann sie auch schon, sich mit einer Übersetzungsapp die Exponate des Museums zu erschließen. Mittlerweile hat sie ein paar Lieblingsstücke, die sie mir beim gemeinsamen Gang durch die ständige Ausstellung zeigt.

Da sind zum Beispiel die Tonkugeln aus dem 15. Jahrhundert, die sie an ein Spiel aus Afghanistan erinnern. „Es haben zwar meist die Jungs gespielt, aber ich habe gerne zugesehen“, erzählt sie. Auch mag sie die bildliche Darstellung der Totentänze, die während der Pest im 14. und 15. Jahrhundert entstanden und die verdeutlichen, dass niemand dem Tod entrinnt – „am Ende macht er alle Menschen gleich“, diese Einsicht der alten Maler teilt auch Fatema.

Besonders liebt sie ein großes Wandbild, das in einem der ersten Räume hängt. Es zeigt kleinteilige Ansichten des städtischen Hafens, wirkt wie ein Wimmelbild des gegenwärtigen Wismar. „Ich kann mich in jede dieser vielen Szenen hineinträumen“, sagt Fatema. „Man erkennt die Figuren auf dem Bild nur bei genauem Hinsehen – ich könnte irgendwo unter ihnen sein.“

Auch außerhalb des Museums ist der Hafen einer jener Orte, die sie häufig besucht. Sie kommt bei gutem und bei schlechtem Wetter, sitzt auf den Stufen zum Wasser und erholt sich von einem anspruchsvollen Alltag. Vom Deutschlernen und den Anforderungen in der Schule. Von ihrem Bruder, der sie zum Lernen aus dem gemeinsamen Zimmer nach draußen verbannt. Von der Angst, auch Deutschland wieder verlassen zu müssen – und vom anstrengenden emotionalen Pendeln zwischen alter und neuer Heimat.

Auf dem Podium beim Nachbarschaftstreffen hatte ein junger Mann erzählt, wie sehr dieses Pendeln auch seinen Alltag bestimmt. „Selbst wenn alles gut läuft, wenn du den Anforderungen genügst, wenn du dich in ein neues Leben eingefügt hast, kann das alte dich mit unerwarteter Wucht einholen“, hatte er gesagt. Fatema hatte ihm zugehört und zaghaft genickt. Sie kann sich nur schemenhaft an ihre Kindheit in Afghanistan erinnern. An eine Zeit, in der sie sich nicht ständig auf den Prüfstand gestellt fühlte.

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