Der Unermüdliche

In den 1990er Jahren floh Chu Eben von Kamerun nach Deutschland. Seither hat sich manches an den Lebensbedingungen von geflüchteten Menschen geändert – vor allem durch das Engagement von Aktivist*innen wie Eben.
— Von Elisabeth Wellershaus, 21.03.2023

Dieses Nachbarschaftsporträt fotografierte für uns die Fotografin Schore Mehrdju.

Wir treffen Chu Eben in Potsdam.

Die meisten Spaziergänger*innen haben den Blick gen Boden gerichtet. Viele sind es ohnehin nicht. Ein eisiger Wind fegt an diesem Märztag durch Potsdam. Er umkreist die prunkvolle Architektur von Filmmuseum und Landtag, erschwert die Ansicht auf den eingehüllten Turm der Garnisonskirche und das Museum Barberini. So schnell ich kann laufe ich vom Bahnhof Richtung Rechenzentrum. Im Vorbeigehen huschen mir Gedanken an die vielen unerzählten Geschichten durch den Kopf, die sich zwischen den Wahrzeichen der Landeshauptstadt abgespielt haben könnten. Gedanken an koloniale Vergangenheiten, die zwischen Regierungsgebäuden und Kirchen schlummern und einen Bogen zur Gegenwart schlagen.

Chu Eben ist noch nicht da, als ich im dritten Stock vor seiner Bürotür ankomme. Er legt täglich den Weg von Werder bis nach Potsdam zurück, ist auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, die ihn gelegentlich im Stich lassen. Vor ein paar Tagen hatten wir uns verabredet, um einen Spaziergang durch die Nachbarschaft um seinen Arbeitsplatz zu machen. Aber als er nun durchgefroren ankommt, will keiner von uns beiden mehr raus. Aus der Perspektive von Chu Eben ist Nachbarschaft ohnehin ein dehnbares, alles andere als eindeutiges Konzept – und sein Büro ist ein guter Ort, um darüber zu reden.

Das Projekt Refugees Emanicipation ist eine Idee von Chu Eben.

Lange bevor er mit seiner Initiative Refugees Emancipation hier einzog, kam er abseits des Brandenburger Zentrums an – Ende der 1990er Jahre war Eben aus Kamerun geflohen. Ein Asylbewerberheim in Eisenhüttenstadt sollte die Übergangslösung sein, doch er blieb ganze sieben Jahre. Rückblickend beschreibt er das Heim als trostlos, das Umfeld als eine Art Nichtort hinter Stacheldraht. „Wir durften uns von dort aus nur in streng abgesteckten Rahmen bewegen, waren physisch und mental isoliert von der deutschen Gesellschaft.“ Er klingt nicht wütend, wenn er davon erzählt, nur irritiert. Irritiert über die Vorstellung, dass „Integration“ eine echte Chance haben könnte, wenn Neuzugezogene und Alteingesessene voneinander ferngehalten werden. Wenn Menschen aus bestimmten Weltregionen in tradierter Abgrenzungslogik nicht mit dem Rest der Gesellschaft zusammenkommen.

Es war ein langer Kampf, bis Eben einen Sprachkurs machen konnte – und als er anschließend studieren wollte, blieb ihm dies aus bürokratischen Gründen verwehrt. Die vielen Zurückweisungserfahrungen hätten ihn in die Lethargie treiben, sein Bemühen um Ankommen zunichte machen können. Doch er hatte noch ein paar Restreserven übrig, die ihn schließlich in die Offensive trieben.

Über einen längeren Zeitraum hatte Chu Eben beobachtet, dass die Isolation in den Heimen unter anderem technischer Natur war. Die wenigsten Menschen dort hatten Zugang zum Internet. Sie lebten an verschiedenen Orten in der Brandenburger Provinz und waren von der deutschen Gesellschaft wie von ihren Kontakten in der alten Heimat abgeschnitten. „In Eisenhüttenstadt gab es eine einzige Telefonzelle, um die sich täglich vierhundert Menschen rangelten.“ Je klarer ihm die Strukturen der Abgrenzung wurden, desto deutlicher reifte sein Plan. Eben wollte die Bewohner*innen in den Heimen über digitale Zugänge mit der Welt vernetzen.

Es begann mit langen und zähen Gesprächen, mit Recherchen über die Strukturen in den Heimen, Auseinandersetzungen mit den entsprechenden Administrationen – und im Austausch mit Unterstützer*innen aus Politik und Zivilgesellschaft. Am Ende waren es Student*innen der Technischen Universität in Berlin, die ihn zu Beginn der 2000er Jahre bei seinem Projekt unterstützten. Sie organisierten Computer, richteten E-Mailadressen für Eben und seine Mitstreiter*innen ein, halfen dabei, Gelder aufzutreiben. Knapp zwanzig Jahre später gibt es in Brandenburg zwölf von Refugees Emancipation betriebene Internetcafés von und für Migrant*innen. Sie sind zu Anlaufstellen für verschiedenste Communitys geworden, zu Orten der Selbstbestimmung und des Austausches. Eben sieht sie als Symbole für die Annäherung an eine Gesellschaft, die er lange nur von der Peripherie aus betrachten durfte.

Die Journalistin Elisabeth Wellershaus im Gespräch mit Chu Eben.

Mit 22 Jahren ist er nach Deutschland gekommen, „viele Jahre habe ich mich hier einsam und isoliert gefühlt“, sagt er. Mit 53 Jahren hat er endlich nicht mehr das Gefühl, im Dazwischen festzuhängen. Das Rechenzentrum in Potsdam ist eine seiner wichtigsten Anlaufstellen geworden. Das labyrinthartige Gebäude bietet Künstler*innen unterschiedlichster Sparten Unterschlupf. Auch Eben beherbergt hier ein diverses Publikum. Seine Besucher*innen nutzen die Büroräume für Sprachkurse, Tanz-Sessions, für die Begegnung innerhalb der afrikanischen Communities. „Das Besondere an diesem Ort“, sagt er, „ist, dass wir hier keine Gäste mehr sind – sondern dass unsere Selbstbestimmung im Zentrum steht.“

Seine Gäste kommen aus allen Teilen Brandenburgs, denn noch immer gibt es in den zerfaserten Strukturen des Bundeslands zu wenige zentrale Orte, an denen unter geflüchteten Menschen Gemeinschaft und Konzepte zu politischer Teilhabe entstehen könnten. Zwar hat sich einiges verändert, seitdem Eben in Deutschland ankam. Die Zivilgesellschaft ist bereits etwas zupackender, was die Bedürfnisse von Menschen in Heimen betrifft, auch sind neue Möglichkeiten hinzugekommen, was das Erlernen von Sprachen oder Zugang zu Ausbildungsplätzen angeht. Doch viele der ursprünglichen Probleme bleiben. Und noch immer wird Begegnung auf vielen Ebenen verhindert, weil geflüchtete Menschen in Einrichtungen untergebracht sind, die über ganz Brandenburg verteilt und von den Zentren der jeweiligen Städte und Dörfer oft weit entfernt liegen.

Die stabile Struktur von Refugees Emancipation sei deshalb besonders wichtig, sagt Eben – die Verortung im Zentrum. „In unseren Potsdamer Büroräumen können wir den Partner*innen, die uns unterstützen, auf neuen Ebenen begegnen.“ Grundsätzlich seien ihm die Aktivist*innen und Politiker*innen, die er dort trifft, wohl gesonnen. „Und doch gibt es offensichtliche Machtdynamiken zwischen uns.“ Dass er nun selbst einladen und Begegnungen gestalten kann, verbessert die Ausgangsbedingungen des Dialogs. Denn dort, wo man selbst Gastgeber ist, wird man als handlungsfähiges Gegenüber wahrgenommen.

Das Gefühl, an einem Ort zu leben, aber nicht Teil von ihm zu sein, hat Chu Eben lange begleitet. Über die politische Arbeit hat sich sein Gefühl, in Deutschland zu Hause zu sein, irgendwann verstetigt. Vor allem aber über die Beziehung zu seiner Frau Imma und zu den gemeinsamen Kindern. Imma Chienku, die etwas später nach Deutschland kam als ihr Mann, hat hier studiert und ist heute eine wichtige Mitarbeiterin bei Refugees Emancipation. Die Koordination des Alltagsgeschäfts übernimmt heute weitestgehend sie, während Eben sich auf Workshops mit jungen Menschen konzentriert, die ähnliche Erfahrungen machen wie einst er.

Imma Chienku und ihr Ehemann Chu Eben

Seit einigen Jahren haben Eben und Chienka eine feste Stelle bei Refugees Emancipation, arbeiten eng mit der Integrationsbeauftragten des Landes zusammen. Der Umzug in ein eigenes Gebäude, in dem ihre Initiative weiter wachsen kann, steht unmittelbar bevor. Mittlerweile leben sie mit ihrer Familie in einem kleinen Häuschen in Werder. „Da gehe ich auch so schnell nicht wieder weg“, sagt Eben und lacht. Bei der Hausbesichtigung stand er als einziger Schwarzer Mensch neben zwanzig weißen Deutschen. Er hat das Haus bekommen und versteht sich gut mit den Nachbar*innen. Doch Nachbarschaft bleibt für ihn ein elastisches Konzept, das Menschen auch über große Entfernungen verbinden kann – und sie im besten Falle aus der Isolation holt.

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