Lesend sichtbar werden
Erst drei Wochen zuvor hatten Zahra und Abeda ihre Texte in einem Schreibworkshop verfasst. Nun haben sie ihre Geschichten auf Schloss Bröllin vorgestellt – und wurden von ihren Töchtern unterstützt.
— Von Elisabeth Wellershaus, 10.07.2023
Eine Bildergalerie von Esra Gültekin
Auf Schloss Bröllin herrscht Trubel zwischen Bullenstall, Kräutergarten und Hofküche. An diesem Junisonntag wird eine Fahrradgruppe mit mindestens hundert Teilnehmenden erwartet. Mecklenburg-Vorpommern feiert das Festival der Gutshäuser, also könnte am Wochenende überdurchschnittlich viel Besuch vorbeikommen. Irgendwo auf dem Gelände hält sich noch eine Jugendtheatergruppe auf, die hier in den vergangenen Tagen einen Workshop hatte. Und nun soll neben all dem auch noch eine Lesung stattfinden.
Theoretisch ist es für Autor*innen, die mit ihren Texten vors Publikum wollen, eine gute Nachricht, wenn viele Menschen von ihren Lesungen erfahren. Bei Abeda Doydal und Zahra Kia aber löst der Wunsch nach Sichtbarkeit ambivalente Gefühle aus. Die Themen, die sie vor einer Weile in Zusammenarbeit mit der afghanischen Lyrikerin und Schriftstellerin Mariam Meetra erarbeitet haben, sind höchst persönliche. Es sind Texte, in denen fiktionale und autobiografische Spuren sich an vielen Stellen überkreuzen. Der Schmerz, die Isolation und die Erschöpfung, die mit ihren Fluchterfahrungen verbunden sind, tauchen darin ebenso auf wie die Zerrissenheit zwischen Vergangenheiten in Afghanistan, Iran und dem Ankommen in der noch immer nicht wirklich vertrauten deutschen Gesellschaft.
Abedas und Zahras Texte sind aus mehreren Beiträgen ausgewählt worden, um heute bei einer Lesung vorgestellt zu werden. Beiden Frauen steht die Aufregung ins Gesicht geschrieben, aber sie wirken auch erleichtert: darüber, dass heute Menschen gekommen sind, die sich mit ihren Geschichten auseinandersetzen
wollen. Während ihre Töchter sich dem Trubel des Tages hingeben, gehen Abeda und Zahra in Gedanken immer wieder das Geschriebene durch. Auch Marie Bamyani, eine junge afghanische Schriftstellerin, die ebenfalls zur Lesung eingeladen wurde, hält die Welt in den Minuten vor dem gemeinsamen Auftritt auf Abstand. Selbst die Moderatorin Kim Archipova, die die Übersetzungen vortragen wird, sieht man in diesen Augenblicken nur mit ausgedruckten Zetteln vor der Nase.
Als Abeda schließlich den Anfang macht und ihren Text auf Persisch vorliest, ist es so still, dass man ein Blatt fallen hören könnte. Das Publikum ist hoch konzentriert, die Wirkung von Abedas Vorlesestimme so stark, dass ich ihr mit angehaltenem Atem zuhöre. Dabei verstehe ich, wie die meisten im Raum, noch gar nichts. Als die deutsche Übersetzung zu hören ist, verwandelt sich die Atmosphäre. Denn nun werden die Autorinnen zu Zuhörenden. Gebannt beobachtet Abeda das Publikum, scheint die Reaktionen auf ihre Geschichte genau wahrzunehmen. Als ihr Text über eine junge afghanische Frau, deren Ehemann sie mit seinen Studentinnen betrügt, in einer unerwartet dramatischen Szene endet, herrscht für einen kurzen Moment Schweigen, ehe das Publikum begeistert applaudiert. Die Wucht des unvermittelten Endes scheint selbst die Autorin überrascht zu haben – vielleicht hat sie ihre Geschichte in diesem Rahmen noch einmal ganz neu gehört.
Abedas Tochter Taiba sitzt mit glänzenden Augen in der ersten Reihe und ist sichtlich bewegt. Die 23-jährige weiß genau, wie schwer der Weg war, den ihre Mutter mit ihr und ihren vier Geschwistern zurückgelegt hat. Sie ist ihn mitgegangen, von der Flucht aus Afghanistan über die Diagnose einer schweren Krankheit bei Abeda bis zur mühsamen Ankunft in Deutschland. Taiba unterstützt ihre Mutter, wo immer es geht. Sie scheint ihr Dolmetscherin, Vertraute und Motivatorin zu sein. „Ich möchte in Deutschland so schnell wie möglich arbeiten, will mein Wirtschaftsstudium nutzen, in Afghanistan habe ich schon viel gemacht“, erzählt sie. Und ein Teil ihrer Energie, vielleicht auch ihrer Hoffnung, scheint sich auf Abeda zu übertragen. Schon in Afghanistan hatte sie sich an kleinen Texten versucht. Und ausgerechnet im fremden Deutschland hat sie einen Weg gefunden, weiterzuschreiben.
Die andere Tochter, die an diesem Abend aufgeregt im Raum sitzt, ist deutlich jünger, ihre Mutter Zahra gerade mal zwei Jahre älter als Taiba. Doch auch die neunjährige Fereshte fiebert mit. Seit Beginn der Veranstaltung bewacht sie den Büchertisch, auf dem Material zu den Themen des Abends liegt. Sie macht Handyfotos von den Autorinnen, lässt sich die Videokamera erklären, mit der meine Kollegin die Lesung filmt und hat keinerlei Berührungsängste mit dem Publikum.
Aber als ihre Mutter auf die Bühne kommt, wird sie ganz still. Es ist kaum auszumachen, was sie mehr berührt: die Mutter vor Publikum zu sehen oder die Tatsache, dass es im Text unter anderem um sie selbst geht. Zahras Geschichte erzählt vom frühen Tod der eigenen Mutter und wendet sich im zweiten Teil an ihre Tochter. Sie ermutigt Fereshte, sich ihre Stärken bewusst zu machen und darüber nachzudenken, was sie mit ihrem Leben anfangen will. Zahra liest mit fester Stimme, schnell, aber sehr sicher. Während der ersten Hälfte der Übersetzung hat sie aufmerksam zugehört. Erst als es um ihre Tochter geht, stützt sie plötzlich den Kopf in die Hände und verlässt dann abrupt den Raum. Sie steht draußen vor dem Fenster, redet kurz mit meiner Kollegin, die Moderatorin liest weiter, und Fereshte hört zu. Es sind nur wenige Minuten, doch in ihnen wird spürbar, was in Zahras Text alles zwischen den Zeilen steht. Während die letzten Zeilen vorgelesen werden, sitzt sie wieder auf der Bühne. Kaum merklich zwinkert sie ihrer Tochter zu, die ziemlich genau zu verstehen scheint, was da gerade passiert ist.
Als Marie Bamyani aus ihrem Text vorliest, fährt ein Polizeiwagen am Fenster vorbei. Ihm folgen an die hundert Radfahrer*innen. Kurz wird Maries berührende Geschichte über eine Bettlerin, die sich durch den urbanen Alltag von Kabul kämpft, von der Lautstärke auf dem Hof übertönt. Hupende Autos im Text, klingelnde Räder in der Realität. Doch in unserem Raum bleibt es nach dem letzten Satz wieder für wenige Sekunden still. Es scheint, als müssten alle Anwesenden sich kurz sammeln, sich vergegenwärtigen, welche Realitäten hier in gerade mal einer Stunde mit Wucht aufeinandergeprallt sind. Als der Applaus dann einsetzt, will er kaum enden. Und allmählich zeigt sich Erleichterung in den Gesichtern der drei Frauen.
Taiba und Fereshte sind bereits draußen. Zusammen laufen die junge Frau und die Neunjährige durch den Garten. Sie stecken die Köpfe zusammen, tuscheln. Wenn man die Verbundenheit zwischen den Generationen, zwischen den Frauen und Mädchen, die heute im Mittelpunkt standen, in ein Bild gießen würde: Vielleicht sähe es so aus. Abeda und Zahra aber stehen noch immer neben dem Büchertisch. So ganz scheinen sie sich nicht aus der Situation lösen zu können, wollen die Sichtbarkeit, zu der sie sich durchgerungen haben, offenbar noch etwas auskosten.