Vertrauen in die eigene Sprache

Meet Your Neighbours war zum Auftakt der neuen Projektrunde beim Integrationsfachtag in Trebnitz. Elisabeth Wellershaus hat Projektleiterin Aylin Karadeniz dorthin begleitet und war mit Moderator Saleh Kahhal in Fürstenwalde. Eine Annäherung an zwei Brandenburger Landkreise.
— Von Elisabeth Wellershaus, 27.09.2021

© Stefanie Kulisch

Pfützen in Schlaglöchern. In Berlin und Brandenburg hat es in den letzten Tagen geregnet, lange und viel. Zwischen Unwetterwarnungen, Starkregen und Bahnstreiks wirkte unser Zielort wie ein Land in unerreichbarer Ferne. Doch nach dichtem Berliner Stadtverkehr und Windradpanorama im Umland sind wir schließlich angekommen. Erst in Fürstenwalde, später in Trebnitz, 65 Kilometer östlich von Berlin. Es liegt in Brandenburg, das man hier fast noch mit dem Berliner Nahverkehr erreicht und das für meine Kollegin Aylin und mich doch unergründete Fremde ist.

Saleh Kahhal schaut uns bei der Begrüßung mitleidig an. Es ist der Blick eines Zugezogenen, der sich ans Landleben wie an das Fremdeln der Hauptstädter*innen gewöhnt hat. Seit fünf Jahren lebt er in Fürstenwalde, tags zuvor hat er uns durch die Stadt begleitet. Er hat uns seine Lieblingsorte gezeigt und sich geduldig ein Bild davon gemacht, wie wenig wir über die gesamte Region wissen. Nun steht er zusammen mit uns auf dem Hof von Schloss Trebnitz, einer internationalen Bildungsstätte, und beobachtet die einfahrenden Autos. Wahrscheinlich geht er in Gedanken die Teilnahmeliste der Veranstaltung durch, für die wir hier sind. Er wirkt nervös.

© Stefanie Kulisch

Vor etwa achtzig Menschen wird Kahhal gleich im Schloss die neunzehnte Integrationsfachtagung in Märkisch-Oderland anmoderieren. Er wird vor Landräten und Integrationsbeauftragten, Mitarbeiter*innen von Stiftungen, der Caritas, dem Kreissportbund und Berufsbildungsvereinen sprechen, vor Parteimitgliedern der FDP, SPD und der Grünen.

Schloss Trebnitz © Maritta Iseler
Seit 1992 beherbergt das Schloss den Verein Schloß Trebnitz Bildungs- und Begegnungszentrum. Unter anderem dient es als Veranstaltungsort für Tagungen, Workshops, Ausstellungen und Konzerte. © Maritta Iseler

Inhaltlich ist das kein Problem für ihn. Saleh Kahhal ist Journalist und Diplompädagoge aus Syrien, aktuell arbeitet er in einem Brandenburger Bildungsprojekt. Doch er lebt in einem Land, in dem Migrant*innen noch immer nicht selbstverständlich die Rolle von Expert*innen einnehmen. Und deshalb macht er sich Gedanken – unter anderem über die winzigen Grammatikfehler, die ihm im Deutschen ganz selten noch passieren. Neben ihm stehen gerade mal eine Handvoll Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte vor der alten Feldsteinscheune, in der die Tagung stattfindet. Ein Umstand, der die Diskussion über Diversität und Inklusion nicht unbedingt begünstigt. Und der Kahhals Selbstbewusstsein vermutlich auch nicht in die Karten spielt.

Schloss Trebnitz liegt in Märkisch-Oderland, Fürstenwalde im Landkreis Oder-Spree. Beide Orte sind nicht gerade Vorbildregionen für transkulturellen Austausch. Zu tief scheinen manche Gräben für nachhaltigen Zusammenhalt, zu verschieden die Interessen Alteingesessener und Neuzugezogener, von Menschen mit Ost- und Westgeschichten, mit Mehrheits- und Minderheitserfahrung. Doch genau hier setzt der Fachtag an, den Kahhal charmant mit einem Verweis auf gemeinsame Interessen eröffnet. Es soll darum gehen, die Anliegen in den Brandenburgischen Landkreisen gemeinschaftlich zu verhandeln, um sich nicht aus den Augen zu verlieren.

Heike Krüger vom Netzwerk Toleranz und Integration hat den Integrationsfachtag organisiert. Zusammen mit Kolleg*innen anderer Initiativen nimmt sie am Workshop von Aylin Karadeniz und Saleh Kahhal teil.
Heike Krüger vom Netzwerk Toleranz und Integration hat den Integrationsfachtag organisiert. Zusammen mit Kolleg*innen anderer Initiativen nimmt sie am Workshop von Aylin Karadeniz und Saleh Kahhal teil. © Maritta Iseler

Zum Einstieg erzählt die Integrationsbeauftragte von Brandenburg, dass sie sich deutlich mehr Ressourcen und Aufmerksamkeit für ihre Themen wünscht. Und ein SPD-Landrat aus Märkisch-Oderland bemüht das christliche Abendland, um seine Version von „Integration“ zu erklären. Doch schon bald zeigt sich, dass die Positionen an anderen Stellen durchlässiger sind. In Gesprächen über die Arbeit mit behinderten Menschen, über deutsch-polnische Partnerschaften, Selbstbestimmung im Alter, Willkommensarbeit und die Annäherung zwischen Provinz- und Stadtbewohner*innen. Die Teilnehmenden sind Haupt- und Ehrenamtliche, die sich auf unterschiedlichste Weise für Inklusion und Teilhabe einsetzen – und für die sich seit Beginn der Pandemie vieles verändert hat. Netzwerke, die hier auf dem Land ohnehin fragil sind, haben in Zeiten der Kontaktlosigkeit empfindlich gelitten.

Beim verregneten Stadtspaziergang hatte Saleh Kahhal uns auch von seiner Arbeit erzählt. Hatte darüber geredet, wie er selbst das Thema Integration denkt und lebt, und uns an Orte geführt, an denen die Verbindung zwischen ihm und Fürstenwalde aufschien. An den Wiesen des Spreeufers hat er seinen ersten Brandenburger Sommer verbracht, in die Bibliothek zieht er sich zurück, wenn der Alltag zu hektisch wird, rund um den Bahnhof trifft er Bekannte aus der migrantischen Community, zum Standesamt begleitet er gelegentlich Klient*innen. In seinem Büro hat er das Gefühl, angekommen zu sein.

Im Verein Al-Tariq in Fürstenwalde engagiert Kahhal sich einmal wöchentlich für migrantische Familien.
Im Verein Al-Tariq in Fürstenwalde engagiert Kahhal sich einmal wöchentlich für migrantische Familien. © Stefanie Kulisch

Als Kahhal vor fünf Jahren nach Fürstenwalde kam, dachte er, er könne in Deutschland weiter als Journalist arbeiten. Er wollte an einen Alltag anknüpfen, den er aus Syrien kannte, sich politischen und gesellschaftlichen Themen widmen. Doch dann stolperte er. Über den Integrationsdruck einer Gesellschaft, die ihm suggerierte, dass das nicht so einfach würde – schon allein wegen der Sprache.

„Sprachkompetenz ist in meinem Beruf das A und O ist“, hatte er gesagt, während der Regen an seinem Bürofenster runterlief, und es hatte wehmütig geklungen. Dabei hat er in Rekordzeit Deutsch gelernt. Nach etwas über fünf Jahren spricht Kahhal so gut wie fehlerfrei, hat Kontakte zu deutschen Medien geknüpft. Für ein stabiles Einkommen als Journalist aber hat es nicht gereicht. Der Markt ist hart umkämpft, und um sich als freier Autor zu behaupten, braucht man ein dickes Fell. Doch genau das wird durch zuverlässiges Infragestellen migrantischer Kompetenz nicht gerade gestärkt.

Angekommen: Kahhals Schreibtisch bei der Initiative „Ein Quadratkilometer Bildung“ zieren Geburtstagswünsche
Angekommen: Kahhals Schreibtisch bei der Initiative „Ein Quadratkilometer Bildung“ zieren Geburtstagswünsche © Stefanie Kulisch

Also orientierte Kahhal sich um. Zunächst arbeitete er ehrenamtlich bei der Caritas und bei Migrant*innenselbstorganisationen. Nach etwa einem Jahr hat er sich für seine jetzige Stelle als pädagogischer Mitarbeiter bei den Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie Brandenburg beworben und bekam den Job. Seine Gespächsreihe „Brandenburg erzählt“ lief erfolgreich, auch sein aktuelles Projekt Ein Quadratkilometer Bildung wirkt in die Stadt hinein. Denn Kahhal hilft Eltern und Kindern aus Einwanderungsfamilien dabei, das deutsche Schulsystem zu verstehen. Und er hilft deutschen Lehrer*innen, die Überforderung zu begreifen, die für diese Familien oft im gänzlich neuen Umfeld steckt. Sein Job ist nicht mit dem eines Dolmetschers zu verwechseln. „Es geht auch um kulturelle Verständnisfragen, um das Ausräumen von Unsicherheit“, sagt er. „Meine Klient*innen sind im Umgang mit Schule oft befangen, weil sie ein anderes System kennen und sehr viel Respekt vor der Lehrer*innenschaft haben.“

Häufig sind es Syrer*innen, die zu ihm kommen und mit denen er neben der Sprache die vielschichtigen Erinnerungen an ein entferntes Zuhause teilt. Zu fast allen hält er den Kontakt.

Wie zur Bestätigung liefen uns im Bahnhofsviertel alle paar Meter Menschen über den Weg, die ihn grüßten. Im arabischen Spätkauf am Bahnhof und in den Geschäften der Eisenbahnstraße. Die Hauptstraße von Fürstenwalde spiegelt die Migrationsbewegung der vergangenen Jahre subtil wider. Zwei, drei Geschäfte sind hinzugekommen, in denen viele von Kahhals Klient*innen sich treffen. Shishas stehen dort neben selbst gemischten Parfums, schwere Kronleuchter hängen neben Boxsäcken, zwischendrin viel glitzernder Modeschmuck. Internationalität im Brandenburger Kleinstadtformat. Auch hier läuft Kahhal winkend vorbei.

© Stefanie Kulisch

Aus Hauptstadtperspektive versprüht Fürstenwalde seine Internationalität nicht gerade offensiv. Aber auch diese Stadt pflegt seit langem Kontakte ins außereuropäische Ausland. 1873 etwa kam ein junger Mann aus der japanischen Provinz Echigo, um in einer Zweigstelle der Tivoli Brauerei in die Geheimnisse des Bierbrauens eingeführt zu werden. Zurück in Japan gründete Nakagawa Seibē Sapporo Beer, worauf man in Fürstenwalde bis heute stolz ist. Eine andere Geschichte erzählt der Leuchtturm zwischen Dom und Bibliothek, und zwar von den Geschäften der Firma Pintsch, deren Leuchten einst bis nach Ägypten verkauft wurden und am Suezkanal standen. Doch das bleiben hübsche Anekdoten einer globalen Vernetzung, die vor aktuellen Ausgrenzungstendenzen verpuffen.

© Stefanie Kulisch

Wenig überraschend beschreiben Saleh Kahhal und viele Teilnehmende des Fachtages Stadt und Region nicht gerade als Orte mit stabiler Willkommenskultur. Sie zeichnen ein Bild, in dem die Abgrenzung vor dem unbekannten Anderen noch immer für kühles Fremdeln sorgt. In dem der Austausch zwischen Alteingesessenen und Neuzugezogenen – aus Syrien oder Berlin – schleppend verläuft und wo Diskriminierung oft die einzige Sprache zu sein scheint, um der Frustration des eigenen Nicht-Gesehen-Werdens Luft zu machen. Denn das wird auf Stippvisite zwischen Märkisch-Oderland und Oder-Spree sehr deutlich: Das Gefühl der Isolation betrifft viele Menschen in diesen Landkreisen – mit und ohne DDR-Vergangenheit, Migrationsbiografie oder beidem.

© Stefanie Kulisch

Mittlerweile gibt es dennoch etliche Menschen außerhalb der migrantischen Community, die Teil von Kahhals Leben sind; viele kennt er durch die Arbeit. Der Supervisor Christian Raschke, der eine Praxis in Trebnitz betreibt, ist einer von ihnen. Jörg Depta vom Mobilen Beratungsteam Frankfurt (Oder) ein weiterer. Auf Schloss Trebnitz sitzen beide am Nachmittag in unterschiedlichen Workshops. Depta spricht mit einer Arbeitsgruppe über das Aufeinanderprallen von landsehnsüchtigen Städter*innen und entnervten Brandenburger*innen. Raschke sitzt im Workshop von Aylin Karadeniz und Saleh Kahhal und diskutiert über das Zerfallen ehrenamtlicher Strukturen seit Beginn der Pandemie. Wie soll es weitergehen nach Corona, Isolation und fehlendem Austausch? Vor allem angesichts der praktischen Probleme, von denen die strukturschwache Region geplagt wird: Schlechte Verkehrsanbindung, interkulturell ungeschultes Personal in Ämtern, fehlende Einbindung von Neuzugezogenen in die Dorfstrukturen, starke Präsenz von rechtem Gedankengut – die Liste ist lang. Und der Wille von Lokalpolitiker*innen, die vielen guten Vorschläge umzusetzen, die auf Fachtagen wie diesem entstehen, wird allein nicht ausreichen. Es braucht auch unser aller Bereitschaft, im Gespräch zu bleiben. Schon um das Thema Integration immer wieder neu auszudefinieren.

„Es wird immer gefordert, dass die vermeintlich Anderen sich integrieren“, sagt Saleh Kahhal am Ende der Tagung auf dem Parkplatz. „Aber auf Seiten der Fordernden wird oft vergessen, dass Integration ein Prozess ist. Einer, der nur dann funktioniert, wenn alle Seiten zusammenarbeiten und sich einander annähern.“ Migrantische Erfolgsgeschichten allein werden das gesellschaftliche Gleichgewicht nicht herstellen.

Der Druck, der am Morgen auf Kahhal gelastet hatte, scheint verflogen. Er hat souverän durch den Tag geführt – Beifall, Schulterklopfen, Zuspruch von Teilnehmenden und Veranstalter*innen. Doch vielleicht ist es gar nicht das, was ihn erleichtert. Vielleicht ist es die Erkenntnis, dass eine perfekte Grammatik nicht der Schlüssel zu seiner persönlichen Integration ist. Sondern das Vertrauen in die ganz eigene Sprache.

© Stefanie Kulisch
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