Was das Schreiben in Bewegung bringt

An einem Wochenende im Mai kamen sieben Frauen aus Afghanistan und dem Iran zu einem Schreibworkshop ins Schloss Bröllin – und brachten Erstaunliches auf Papier.

— Von Elisabeth Wellershaus, 18.06.2023

Eine Bildergalerie von Esra Gültekin

Das Schloss Bröllin

Nur ein paar Straßen hinter dem Bahnhof von Pasewalk wirkt es erstaunlich idyllisch. Auf dem Weg zu unserem Veranstaltungsort fahren meine Kollegin und ich an restaurierten Fachwerkhäusern und einem schön gestalteten Marktplatz vorbei. Was wir bei unserer Ankunft in Fahrenwalde sehen, wirkt noch gemütlicher: eine alte Feldsteinkriche, ansonsten Wiesen und Felder, soweit das Auge reicht. Auf dem Gelände rund um Schloss Bröllin – einem Jahrhunderte alten Gutshof – wird seit einigen Jahren interdisziplinäre Kunst produziert und gezeigt. Auf der Weide hinter den Häusern gibt es Campingmöglichkeiten, irgendwo proben Jugendliche für ein Zirkusprojekt. Menschen sitzen auf Bierbänken, plaudern, essen, entspannen. Alles fast ein bisschen zu schön, um wahr zu sein.

Die andere Seite der Medaille: Die AfD kommt in dieser Gegend auf sehr hohe Wahlergebnisse. In Medienberichten über das nahegelegene Pasewalk ist die Rede von Arbeitslosigkeit, Überalterung, Perspektivlosigkeit und der Skepsis vor „Fremden“. Und so treffe ich mit zwiespältigen Gefühlen auf dem Hof ein. Die Gruppe, die hier seit dem Morgen in einem Seminarraum arbeitet, bewegt sich in dieser Gegend, wie ich, auf fremdem Terrain. Doch die sieben persischsprachigen Frauen, die für einen Schreibworkshop hier sind, haben Wichtigeres zu tun, als sich von Nachwendetristesse und einer zähen Gegenwart ablenken zu lassen.

Ohnehin wollen sie zunächst ganz unter sich bleiben. Sie wollen die ersten Versuche, sich in ihrer Muttersprache literarisch auszudrücken, in geschütztem Rahmen unternehmen und sich weder skeptischen Blicken noch dem Unverständnis für ihre Situation aussetzen. Denn alle, die hier vor Mecklenburgischer Landkulisse mit der afghanischen Lyrikerin und Schriftstellerin Mariam Meetra zusammenarbeiten, haben Geschichten mitgebracht, die es in sich haben.

Während des Workshops

Als ich am frühen Nachmittag zu ihnen stoße, arbeiten sie konzentriert an ihren Texten. Erst als Meetra zur Pause ruft, wird die Stille durchbrochen und ein befreites Plaudern setzt ein. Die Stimmung ist gut, gelöst. Kaum vorstellbar, dass vor ein oder zwei Stunden noch viele Tränen geflossen sein sollen. Erst als die Frauen anfangen, mir von ihren Texten und persönlichen Erfahrungen zu erzählen, ahne ich, was durch das Niederschreiben der eigenen Geschichten alles in Bewegung geraten ist.

Fatema Saifi

Die Geschichte der 20-jährigen Fatema und ihrer Mutter Kamela kenne ich bereits in Ansätzen. Vergangenes Jahr haben wir uns im Museum für Stadtgeschichte in Wismar kennengelernt, wo Fatema Führungen auf Persisch gibt. Mutter und Tochter erzählten damals, wie schwer die Zeiten vor und nach der Ankunft in Deutschland gewesen waren. Wie sie händeringend nach einer neuen Wohnung suchten, um aus dem schwierigen Umfeld herauszukommen, in dem sie in Wismar lebten. Als ich sie in Bröllin wiedertreffe, wirken beide, als hätten sie sich in vergangenen Monaten etwas erholt. In der neuen Wohnung scheinen sie nach Flucht und zehrenden Asylverfahren etwas Kraft gesammelt zu haben. An diesem Wochenende nutzen sie die neuen Ressourcen, um Vergangenes zu reflektieren: den Druck, die Isolation und die Last, stets funktionieren zu müssen – auch wenn es eigentlich längst nicht mehr geht.

Kamela Hemati

Die meisten Teilnehmerinnen kennen sich bereits aus Wismar. Das Vertrauen untereinander hilft, um in den Schreibpausen schnell ins Gespräch zu kommen. Auch das Schreiben selbst geht vielen Frauen leicht von der Hand. Drei von ihnen haben in Afghanistan als Lehrerinnen gearbeitet. Die Arbeit an Schulen gilt als eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen, sich in Afghanistan in professionellem Umfeld intellektuell zu betätigen. Und so haben Safia, Abeda und Kamela sich bereits mit Fragen zu Literatur, Geschichte oder auch mit aktuellen Umweltproblemen beschäftigt. Palwasha erzählt dagegen, wie groß ihre Angst vor dem Schreiben war. Davon, dass sie weder in Afghanistan noch im Iran zur Schule gehen durfte und das Schreiben erst auf Umwegen erlernt hat. „Man hat mir in meinem Leben schon so oft gesagt: Das kannst Du nicht“, erzählt sie, und ringt sich dabei ein kleines Lächeln ab. Als junges Mädchen träumte sie davon, Ärztin zu werden, was in den Augen ihres damaligen Umfelds völlig illusorisch schien. In Deutschland möchte sie Busfahrerin werden, aber auch darauf macht man ihr aktuell keine großen Hoffnungen. Doch sie will ihr Leben nicht mehr nach den Vorstellungen anderer ausrichten.

Abeda Dodyal
Mariam Isaqzai

Als Mariam Meetra die Frauen am Nachmittag wieder an den Schreibtisch bittet, sitzen sie zunächst wie paralysiert vor ihrer Aufgabe. Meetra hat sie gebeten, einen weiteren Text zu schreiben – einen der von positiven Erfahrungen erzählt. Ich beobachte die Frauen, wie sie auf Bleistiften kauen, wie sie in die Luft, in den schönen Garten oder auf weiße Blätter starren. Die Auseinandersetzung mit den schweren Momenten der letzten Jahre hatte am Morgen starke Gefühle ausgelöst. Die Frage nach positiven Erlebnissen macht die Frauen nun eher ratlos. Irgendwann aber wird doch wieder ein Stift gezückt, man hört das Kratzen der Minen, und in winzigen Nischen der Zuversicht entstehen neue Texte.

Palwasha Qasimi

Etwas später sitzen sie auf dem Feld hinter dem Schafstall – Fatema, Kamela, Palwasha, Zahra, Safia, Meriam und Abeda. Sie erzählen von den letzten Geburtstagen ihrer Töchter. Von entspannten Zeiten mit neuen Freund:innen. Von der zerbrechlichen Gewissheit, dass sie heute ihre Meinungen aussprechen, ihre Erfahrungen teilen können – ohne dass eine von ihnen in Lebensgefahr gerät. Davon, dass es neben Angst und Sorgen auch kleine Lichtblicke gibt. Es war nicht leicht, über all das zu schreiben. Doch nun steht die Frage im Raum, ob das Entstandene auch öffentlich vorgetragen werden kann. Viele der Frauen wollen weiterschreiben. Sie wünschen sich, dass ihre Geschichten gehört werden, dass sie das Bild geflüchteter Menschen um ihre ganz individuellen Perspektiven erweitern. Andere wollen sich Erlebtes von der Seele schreiben, aber es danach dicht bei sich behalten – geschützt vor einer vielleicht unbarmherzigen Öffentlichkeit.

Safia Halim
Zahra Kia

Dort, wo AfD-Politiker:innen immer wieder die „Angst“ vor „Fremden“ schüren, treffen die komplexen Themen dieses Wochenendes auf ein schwieriges Umfeld. Dabei geht es in Gegenden wie Pasewalk doch letztlich auch um die Frustration über das Vergessenwerden. Um den Eindruck des Zurückgelassenwerdens und um unerzählte Geschichten. Und hätten diese Geschichten nicht das Potential, sich mit den Erfahrungen anderer Menschen zu verbinden, die ebenfalls um den Erhalt ihrer Identitäten ringen?

Das Gut Bröllin ist ein seit mindestens 1233 bestehender Gutshof, der etwa 30 km von Polen entfernt liegt.

Es ist fast schon dunkel, als das Brennholz für den Abend gesammelt wird und die schweren emotionalen Aufräumarbeiten des ersten Tages hinter allen liegen. Zwischen Bullenstall und neu hergerichteter Bar werden die Scheite aufgestapelt, und wenig später ist Musik zu hören. Persische Lieder klingen durch das ansonsten stille Bröllin. Die Ausgelassenheit geht so weit, dass meine Kollegin und ich gelegentlich besorgt zum Feuer schielen. Es wird getanzt, gesungen und über die Flammen gesprungen. Und vermutlich ist genau so ein Abend nötig, um sich auf den nächsten Schritt vorzubereiten – auf die Lesungen der eigenen Geschichten.

Kim Archipova organisierte die Veranstaltung in Bröllin.
Aylin Karadeniz mit Abeda Dodyal
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