Wenn das Vertraute porös wird

Wie beweglich das Konzept Nachbarschaft sein kann, demonstrierte im September eine Frauengruppe aus Essen bei einem Schreibworkshop von Meet Your Neighbours.  
— Von Elisabeth Wellershaus, 04.10.2023

© Ksenia Kuleshova

Schwer zu sagen, ob es an der dörflichen Einsilbigkeit liegt oder an der Tatsache, dass der öffentliche Nahverkehr sich standhaft weigert, diesen Ort regelmäßig anzufahren – Materborn, ein Stadtteil von Kleve am Niederrhein, ist jedenfalls nicht ganz das, was ich mir für einen Schreibworkshop mit einer migrantischen Frauengruppe vorgestellt hatte. Als ich nach langer Fahrt aus dem Bus steige, stehe ich zwischen einem riesigen Friedhof und dichtem Wald, die ländliche Ruhe ausstrahlen. In den Vorgärten jäten ein paar Menschen schweigend Unkraut. Und wer mir entgegenkommt, murmelt ein leises „Hallo“ Richtung Gehweg.

Aber als ich mich der Jugendherberge nähere, legen sich lebhafte Stimmen über die Stille. Auf dem Hof vor dem Haus sitzen Frauen mittleren Alters und reden laut durcheinander. Als sie mich sehen, winken sie mir zu. Wahrscheinlich ahnen sie, dass ich mich an diesem Ort genauso fremd fühle wie sie. Dass wir in irgendeiner Form zusammengehören könnten.

© Ksenia Kuleshova

Tatsächlich ist es die Gruppe, die am Vormittag für einen Schreibworkshop mit Meet Your Neighbours angereist ist. Etwas abseits sitzt die syrische Journalistin und Schriftstellerin Dima Albitar Kalaji und beobachtet die vierzehn Frauen, denen sie in den kommenden zwei Tagen ins Schreiben helfen wird. Die Gruppe kennt sich schon lange, der Umgang untereinander wirkt vertraut. Viele der Frauen senden die typischen Signale eines eingeschworenen Kreises aus, eine Gruppendynamik, die der Außenwelt signalisiert: Wir gehören zusammen, wir halten zusammen.

Auf einer Bank neben dem Fußballplatz setze ich mich zu Dima und frage, was ich verpasst habe. Es habe ein paar interessante Entwicklungen gegeben, sagt sie. Zum Einstieg in das Projekt hatte sie die Frauen gebeten, ein Objekt mitzubringen und sich damit vorzustellen. Viele hatten Fotos von verstorbenen Menschen dabei, was zu einem unvermutet emotionalen Auftakt führte. „Eigentlich wollten wir hier ja eine Auszeit vom Alltag“, tuscheln die Frauen beim Kaffeetrinken. „Einfach mal Zeit miteinander verbringen, einen neuen Ort kennenlernen. Aber es geht gleich ans Eingemachte.“ Sie seien schon so lange miteinander befreundet, dass sie ohnehin schon alles übereinander wüssten. Warum nun in einer konzertierten Aktion an die Schmerzen der Vergangenheit rühren?

Die Gespräche des Nachmittags gehen beim Abendessen direkt weiter: Der Wunsch, Spaß miteinander zu haben, scheint ausgeprägt zu sein. Doch man* beginnt zu ahnen, dass unter dem heiteren Bild der Gemeinschaft auch einiges an Ungesagtem liegt. Die Freundinnen haben sich über den Deutsch-Tunesischen Verein kennengelernt, den Mouna Messaadi-Gharbi in Essen leitet. Einige von ihnen kommen aus Tunesien, andere aus Marokko, Syrien oder Jordanien. Als sie einander kennenlernten, verstanden sie sich kaum. Zwischen ihren Dialekten lagen Ländergrenzen, kulturelle Prägungen und unvertraute Wörter. Über die Jahre haben sie gemeinsam eine Sprache entwickelt. Ein Arabisch, das Versatzstücke ihrer Erfahrungen beinhaltet und sich mit einem Deutsch abwechselt, das die Verortung im neuen Leben beschreibt.

Doch selbst mit gemeinsamer Sprache: Wie schreibt und erzählt man* in vertrautem Rahmen Geschichten, die lange im Verborgenen lagerten? Wie spricht man über die großen Lebensthemen und den Schmerz des Verlustes, wenn man* ihn über geraume Zeit im Schutz der Gruppe vergessen konnte?

© Ksenia Kuleshova

Vielleicht tastet man* sich vorsichtig heran. Nach dem Abendessen packen Mouna und „ihre Frauen“ Plastikbehälter in allen Formen und Größen aus. Sie stapeln Süßes und Salziges auf dem Tisch vor der Jugendherberge, stellen einen Bluetooth-Lautsprecher dazu und erklären das Freizeitprogramm für eröffnet. Dima, unsere Kollegin Aylin und ich sind herzlich eingeladen, sind aber schnell entschuldigt, als wir erklären, dass wir uns den Ort für unsere Dokumentation noch etwas genauer ansehen wollen.

© Aylin Karadeniz

Ein Spaziergang führt uns zu den beeindruckenden Steinskulpturen eines lokalen Künstlers, die mitten im Wald stehen. Unterwegs begegnen wir Menschen, die freundlich grüßen und uns ein „Sie sind aber nicht von hier“ mit auf den Weg geben. Wir treffen andere, die zum Plaudern aufgelegt sind. Und am Ende landen wir in einer Kneipe am Waldrand. Inzwischen haben wir erfahren, dass die Steinskulpturen im vergangenen Winter mutwillig zerstört und mit Hilfe vieler Bewohner*innen wieder aufgebaut wurden. Dass der Ort vor allem bei pensionierten CDU-Politiker*innen beliebt ist. Und dass am nächsten Tag eine große Kabarettveranstaltung in unserer Kneipe stattfindet.

Immer interessanter und vielschichtiger wirkt das Umfeld, durch das wir uns bewegen, auch wenn die Fremde sich stellenweise hartleibig gibt. Am nächsten Morgen präsentiert sich der Ort wieder in neuen Farben: Die angekündigte Polizeigruppe ist noch nicht eingetroffen, aber die Mitglieder eines Fußballklubs und einer Blaskapelle rangeln mit uns um Brötchen und Aufschnitt. Die Blaskapelle wird wenig später direkt neben unserem Workshopraum mit ihren Proben beginnen. Ungläubig schauen wir uns an, als Posaunen, Trompeten und Hörner unbeholfen miteinander ins Gespräch gehen. Es sind nicht die günstigsten Voraussetzungen, um sich im leisen Schreiben der eigenen Geschichte zu nähern. Aber vielleicht ist es das richtige Umfeld, um Differenz als etwas Positives zu beschreiben – und sich ein wenig zu öffnen.

© Ksenia Kuleshova

„Wir sind Fremde im Leben derer, die wir lieben“, schreibt Dima in einer Serie mit poetischen Einzeilern. Auch in diesem Kreis dauert es, bis eine Frau im Workshop den Anfang macht und durch Schreibübungen zu biografischen Themen ins Erzählen findet. Bis die Geschichten um dramatische Verluste und Traumata, die sich am Vortag angedeutet hatten, ihren Raum finden. Es wird noch einige Assoziationsspiele und Gruppenübungen brauchen, einen Spaziergang übers Gelände, erste Schreibübungen und viel Gefrotzel unter Freundinnen. Doch dann sprudeln sie auf einmal aus vielen heraus: ganz individuelle Erfahrungen aus der Vergangenheit. Auf einmal lösen sich Geschichten aus der Sicherheit des Kollektivs. Plötzlich fließen Tränen und Erinnerungen. An Gewalt, Verlust, Verzicht und Selbstaufgabe. Innerhalb weniger Stunden ist der Schutzwall, mit dem die Frauen um Mouna Messaadi sich gestern noch präsentiert hatten, ein bisschen poröser geworden.

Am Abend machen sie sich zu Fuß auf den Weg in die Stadt und die Zerbrechlichkeit des Nachmittags klingt fast schon wieder wie ein leises Echo. Kichernd brechen die Frauen auf, um sich das Lichterfest in Kleve anzusehen. Das WIR MACHEN DAS-Team bleibt zurück, um die Eindrücke des Tages zu verarbeiten – und um noch einmal nach den Geheimnissen von Materborn zu forschen. Unser letzter Abend führt Aylin und mich ins Haus Ida. Wir treffen auf biertrinkende Männerrunden und wollen uns fast schon auf den Heimweg machen. Doch da fängt uns Herr Thissen vorm Tresen ab. Er hat gesehen, dass wir ein paar Urkunden an seiner Wand bewundert haben, und erzählt stolz von seiner vollautomatischen Kegelbahn. Er erzählt vom Sportkegeln, von den zwölf Jahren, die er zur See gefahren ist. Und irgendwann schauen wir uns verdutzt an, als wir feststellen, dass wir im Sommer alle in Istanbul waren. Zum Abkassieren ruft er seine Tresenkraft, und in diesem Moment bekommt Materborn endgültig einen Anstrich von Internationalität. „Ayşe, komma her“, verlangt er in freundlich rauem Seemannston. Aber als wir ansetzen, uns über eine türkeistämmige Barfrau zu freuen, sagt er: „Nee, lustige Geschichte: Ayşes Vater fand den Namen einfach nur schön. Und mit dem hat sie’s auf der Kegelbahn nun nicht immer ganz leicht.“

„Wir begegnen uns, und die Gewissheit tritt ein“, heißt es in einem weiteren Einzeiler von Dima Albitar Kalaji. Zurück in der Jugendherberge sehe ich die Frauen, die vom Stadtausflug zurückgekehrt sind und den Abend singend und tanzend auf dem Hof beschließen. Ich denke über Herrn Thissen nach und über die Frage, was es bedeutet, dass wir „nicht von hier“ sind. Darüber, dass Mauern, an denen die Begegnung abprallt, in den ungeahntesten Situationen porös werden.

„Danke, dass du uns zum Weinen gebracht hast“, wird eine Frauen am kommenden Tag zu Dima sagen. Die Frauen werden sich verabschieden und beteuern, dass sie sich schon auf den nächsten Workshop freuen.

Alle Fotografien von: Ksenia Kuleshova

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