Wie oft kann man ankommen?
Etliche Male hat Maryam Hosseini die Koffer packen und fast alles zurücklassen müssen. Nach Stationen in Afghanistan, Iran und Schweden, versucht sie nun, sich an Wriezen in Märkisch-Oderland zu gewöhnen.
— Von Elisabeth Wellershaus, 10.10.2022
Es gießt in Strömen. Die Fotografin lässt Funktionsjacke und Regenschirm im Flur abtropfen, und unsere Reportage beginnt anders als geplant. Eigentlich hatten wir einen Spaziergang durch Wriezen machen wollen. Wir wollten uns die Stadt zeigen lassen, in der Maryam Hosseini vor ein paar Monaten angekommen ist. Aber nun sitzen wir vor dampfendem Kardamom-Tee, alle drei unmotiviert, uns ins graue Stadtleben zu stürzen.
Noch ist es draußen so kühl, nass und neblig, dass der Blick auf die grünen Ausläufer der kleinen Stadt in Märkisch-Oderland hinter einem Regen-Schleier verschwinden. Und so erzählt Maryam (35) uns, während ihr Ehemann Said und die drei Kinder zu Hause eintreffen, vom langen Ankommen der Familie.
Aus dem Nebenzimmer hört man Stimmen und Sprachen. Es ist nicht ganz auszumachen, welche es sind, fünf stehen zur Auswahl. Farsi, die Sprache, die sie bei langen Aufenthalten im Iran sprachen. Schwedisch, weil sie ein gutes Jahr auf Gotland und drei Jahre in Tingsryd lebten, bevor sie abgeschoben wurden. Englisch, die Sprache, die sie von unterwegs mitgebracht haben und in der sich die Kinder heute unterhalten. Und Deutsch, was sie seit zwei Jahren lernen.
Maryams Eltern waren Mitte der 1980er Jahre von Afghanistan in den Iran geflohen. Eine Weile lebten sie mit ihren Kindern dort, bis sie in ihre Heimat zurückkehrten. Vier Jahre lang ging es gut in Afghanistan, dann begann der erste Taliban-Krieg und sie flohen wieder in den Iran. Maryam hat 20 Jahre ihres Lebens dort verbracht, ihre ersten beiden Söhne wurden dort geboren. Doch es gelang ihr und ihrem Mann nicht, sich ein neues Leben aufzubauen, denn Said hatte keine Papiere. So zogen sie abermals nach Afghanistan, bauten ein Haus, eröffneten eine Auto- und Teppichwäscherei, führten einen kleinen Supermarkt. Der jüngste Sohn kam auf die Welt, und die Taliban kamen wieder an die Macht. Quasi über Nacht ließen sie alles zurück, gingen mit einem kleinen Rucksack in den Iran, wo Said mehrmals von der Polizei aufgegriffen wurde – die Gefahr seiner Abschiebung hing stets drohend über der Familie.
Als Saleh sieben Jahre, Hadi vier und Mahdi drei Monate alt sind, fassen Maryam und ihr Mann einen Entschluss: Irgendwie müssen sie es nach Europa schaffen. 2015 packen sie das Wenige, was ihnen geblieben ist und machen sich auf den Weg. 52 lange Tage, 13 Ländergrenzen, Kinder in Kofferräumen, etliche durchlaufene Nächte, eine Schlauchbootfahrt, die fast in einer Katastrophe endet. Es sind viel zu viele Situationen, in denen sie nicht mehr daran glauben, doch irgendwann erreichen sie Schweden. Und für einen Moment sieht es so aus, als wären sie angekommen.
In Rekordzeit lernt Maryam Schwedisch, findet als Begleiterin für migrantische Kinder Arbeit in einer Schule, auch die Kinder sind gut versorgt. Nach Jahren in einer Gemeinschaftsunterkunft findet die Familie eine kleine Wohnung. Doch da ist ihr Asylantrag bereits zwei Mal abgelehnt worden. Als der dritte Versuch scheitert, zerplatzt die Hoffnung, dass sie zur Ruhe kommen dürfen. Wieder heißt es Koffer packen, und wieder geht es über Landesgrenzen.
Die erste Zeit in Deutschland ist für die Familie eine unwirkliche. Es ist 2020, das Land kämpft sich durch das erste Corona-Jahr, Begegnungen finden kaum statt. Wegen Mahdis Asthma bekommen sie gleich eine Wohnung gestellt. Doch in dem Moment, als der lang ersehnte Aufenthaltstitel endlich da ist, müssen sie auch schon wieder raus. Willkommen in Deutschland, heißt es von behördlicher Seite: Ihr steht nun auf eigenen Füßen.
Doch anstatt sich der Erschöpfung hinzugeben, tut Maryam wieder einmal, was sie am besten kann: Sie lässt sich mit allem, was ihr zur Verfügung steht, auf die neue Situation ein. Deutsch spricht sie bereits, ein junger Mann aus der Migrationshilfe in Wriezen hilft ihr einen Job zu finden, und bald arbeitet sie wieder mit migrantischen Kindern an einer Schule. Nach großen Mühen findet die Familie in Wriezen eine neue Wohnung. Auf die Frage, wie es ihr hier gefällt, zuckt sie mit den Schultern. Wie könnte es ihr nicht gefallen? Sie hat Arbeit, eine Wohnung, und all das kann man ihr nicht mehr so einfach wegnehmen.
Der Regen vor dem Fenster hat sich vom Sturzbach in gemäßigte Herbstnässe verwandelt. Und Maryam will endlich vor die Tür. Die Regenjacke, die sie ungeduldig überwirft, hat sie noch aus Schweden. Während wir uns anziehen, erzählt sie von den vielen verregneten Tagen, an denen sie – zusammen mit anderen Demonstrant*innen – in der Stockholmer Innenstadt stand, um für Änderungen im schwedischen Asylverfahren zu kämpfen.
Vor der Haustür in Wriezen scheinen Großstädte und migrantische Widerständigkeit in undefinierbarer Ferne zu liegen. Knapp 7.700 Einwohner*innen zählt Wriezen aktuell, über ein Viertel davon haben AfD gewählt. Die paar Menschen, die uns an diesem grauen Tag begegnen, blicken skeptisch in unsere Richtung. Doch an Maryam scheinen diese Blicke abzuprallen: Die Gewissheit, bleiben zu dürfen, scheint ihrer Begegnung mit Wriezen eine unerwartete Leichtigkeit zu verleihen.
Wo die Fotografin und ich die Tristesse einer leergefegten Fußgängerzone wahrnehmen, zeigt Maryam begeistert auf die Stadtbibliothek, in der sie und die Familie sich einmal im Monat mit Lesestoff eindecken. Wo die Wucht Brandenburgischer Plattenbauten uns aufs Gemüt schlägt, zeigt sie auf ein stadtbekanntes, Efeu umranktes Storchennest. Wo wir die Zahlen der letzten Landtagswahlen besprechen, schwärmt sie von Nachbar*innen aus ihrem Haus, mit denen sie sich angefreundet hat. Das ältere Ehepaar mit Hund hat sie schon einige Male besucht, auch Arbeitskolleg*innen waren bereits da – Maryam fällt es leicht, sich mit anderen zu verbinden.
„Ich will meinen Kindern vermitteln, wie wichtig es ist, anderen Menschen offen zu begegnen“, sagt sie. „Wenn wir Angst und Zurückhaltung vorleben, kopieren sie das.“ Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen. Wir sind ein gutes Stück gelaufen. Durch die Fußgängerzone, vorbei an Bibliothek und Storchennest. An der Alten Oder machen wir kurz Halt. Maryam kommt regelmäßig hierher, mit der Familie oder allein. Sie kommt, um sich zu entspannen. Oder um mit dem Fahrrad die Strecke am Fluss entlang zu fahren. „Neulich habe ich es fast bis nach Polen geschafft“, sagt sie und lächelt triumphierend.
Ein paar Straßen weiter liegt das evangelische Gymnasium, das ihr Sohn besucht. Es wird von den Johannitern geleitet, was Maryam sehr begrüßt. „So hat er die Chance, verschiedene Religionen kennenzulernen und miteinander zu vergleichen.“ Er fühlt sich wohl an seiner Schule, sagt sie, gehört nach weniger als einem Jahr bereits zu den Klassenbesten. Er ist angekommen, genau wie sein kleiner Bruder, der nun in der Kita Deutsch lernt. Ihr Vater Said dagegen tut sich schwerer mit der neuen Sprache. „Auch unserem mittleren Sohn fällt es nicht leicht“, sagt Maryam. Er hadert mit der deutschen Grammatik, der neuen Umgebung, dem Druck, ankommen zu müssen, misstraut der vermeintlichen Sicherheit, in der sie jetzt leben. Doch selbst zu seinen Problemen findet Maryam gelassene Worte. „Es gibt Blessuren, die man sieht und andere, die sich im Verborgenen ausbreiten“, sagt sie. Es scheint schlicht ein weiteres Thema, um das sie sich kümmern muss. Wenn es geht, versucht sie den regelmäßigen Therapiesitzungen ihres Sohnes in Frankfurt Oder etwas Positives abzugewinnen. „Neulich haben wir einfach einen Familienausflug draus gemacht.“
Mittlerweile haben wie die Stadt einmal umrundet, sind an Maryams Fahrschule und ihren Lieblingsdenkmälern vorbeigelaufen. Jetzt stehen wir vor dem Haus der Familie Blunk. Mit ihnen hat Maryam vor ein paar Tagen auf einem Podium im Bürgerzentrum Offi in Bad Freienwalde gesessen und einen Dokumentarfilm vorgestellt. Es war ein Film über zwei Familien, die kürzlich neu in Wriezen angekommen sind: die Blunks aus Berlin – Vater Künstler, Mutter Politikerin, zwei Töchter. Und die Hosseinis, die schon sehr lange unterwegs sind – Vater: gelernter Schweißer, Mutter angehende Lehrerin, drei Söhne.
Ob es ein Filmprojekt für die Begegnung gebraucht hat, wurden sie auf dem Podium gefragt. Und alle nickten. „Ich denke schon“, sagte Herr Blunk, „leider. Ich hätte die Hosseinis wahrscheinlich nicht einfach im Supermarkt angesprochen.“ Wobei Maryam auch das zuzutrauen wäre. Dabei verdeckt ihr Kommunikationstalent es nur oberflächlich: wie viel Anstrengung in einem Leben steckt, in dem Zuhause immer wieder ein neuer Ort ist.